Vor gut einem Jahr kaufte Elon Musk Twitter. Was kann schon schiefgehen, wenn der reichste Mensch der Welt die bedeutendste Meinungs- und Kommunikationsplattform übernimmt? Selbstverständlich wurden alle Befürchtungen bestätigt und es kam sogar noch schlimmer: Musk machte die Plattform innerhalb kurzer Zeit für viele Menschen unbenutzbar und verschob den Diskursraum massiv nach Rechtsaußen. Eine einst globale Öffentlichkeit ging verloren.
Während sich Mastodon und das Fediverse daraufhin kurzzeitig großer Beliebtheit erfreuten, gab es unter ehemaligen Twitter-Powernutzer:innen trotzdem das Bedürfnis nach dem „Twitter-Erlebnis“ mit ihrer Kommunikationskultur. Viele fanden diese im Laufe des Jahres auf der neuen Plattform Bluesky, die aus dem früheren Twitter als Experimentierplattform ausgegründet worden war.
Ob Bluesky langfristig interessant bleiben wird, muss sich noch zeigen. Viele Features fehlen noch und wer macht da überhaupt Content-Moderation? Gerade hat Meta in der Europäischen Union den Microblogging-Dienst Threads gelauncht, der durch seine Nähe zu Instagram deutlich massenkompatibler sein dürfte, Schnittstellen ins Fediverse verspricht und derzeit auch testet.
Auch das war 2023: Wir leben in der merkwürdigen Gegenwart, wo viele Menschen ein soziales Netzwerk von Mark Zuckerberg als Hoffnung sehen, weil alles besser ist als von Elon Musk. Die grundlegende Frage lautet aber immer noch: Wie schaffen wir es, gemeinwohlorientierte Infrastrukturen für die digitale Öffentlichkeit nachhaltig aufzubauen und zu finanzieren, die nicht nach überwachungskapitalistischen Mechanismen mit allen bekannten Nebenwirkungen funktionieren.
Die Zukunft könnte offener und dezentraler werden als bisher, auch wenn nicht alle davon begeistert sind. Bis dahin stehen viele von uns vor dem Problem, ständig überlegen zu müssen, ob sie einen interessanten Link auf bis zu fünf Plattformen parallel teilen. Früher war es schon etwas besser.
Das Warten auf die Plattformregulierung
Für die Plattformregulierung war es ein Jahr des Übergangs und der Brieffreundschaften. Die EU beschloss im vergangenen Jahr den Digital Services Act und den Digital Markets Act. Sie werden erst im nächsten Jahr durchgesetzt. In Deutschland wird immer noch um die Zuständigkeiten gerungen. Die Very Large Online Platforms (VLOPS im DSA) und Gatekeeper (im DMA) stehen bereits fest. Auch wenn sich einige Unternehmen nicht als solche sehen und gerichtlich gegen die Einstufung vorgehen.
Unklar ist weiterhin, ob die Durchsetzung der europäischen Regelwerke vor allem gegenüber den intransparenten großen Plattformen funktionieren und wie das Recht auf Datenzugang zur besseren gesellschaftlichen Kontrolle für wen wie genau umgesetzt wird. Die kommenden Jahre bleiben hier spannend: Werden die privatisierten Öffentlichkeiten auf rechtsstaatlichem Wege demokratisiert, sind die Regeln eher Papiertiger oder werden sie sogar für mehr Kontrolle missbraucht? Alles ist noch möglich.
Rechtsstaat vor Überwachung schützen
2023 schafft es die AfD in Umfragen bundesweit auf bis zu 23 Prozent – und das ist nur ein Symptom von vielen, das den Rechtsruck unseres politischen Systems belegt. Wir hatten früher immer davor gewarnt, dass die vielen Überwachungsgesetze irgendwann in der Hand von Rechtsextremen auch gegen Rechtsstaat und Demokratie eingesetzt werden könnten.
Aus der Theorie könnte schon bald Praxis werden und die drohenden Szenarien sind erschreckend. Die viel beschworene Brandmauer erweist sich als eine Wand aus Stroh. Befördert wird dieser Rechtsruck durch irrationale Kulturkämpfe, die die Medien befördern, und in denen Gefühlsfragen wie das Gendern wichtiger erscheinen als Fragen der Daseinsvorsorge.
Es ist kein Funfact: Rund vier von fünf Leser:innenbriefe, die ich in den vergangenen Jahren bekommen habe, drehten sich um die Forderung, dass ich gefälligst mit dem Gendern aufhören soll. Natürlich waren sie fast immer von Männern geschrieben.
Wenigstens wurde der Chatkontrolle durch das Engagement vieler Menschen so viele Steine in den Weg gelegt, dass die Durchleuchtung unserer verschlüsselten Kommunikation erst einmal nicht auf EU-Ebene beschlossen werden dürfte.
Und auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich vielen höchstrichterlichen Entscheidungen angeschlossen und in diesem Jahr erneut die Vorratsdatenspeicherung für illegal erklärt. Unsere Bundesinnenministerin möchte sie trotzdem zurückhaben. Was machen eigentlich die im Koalitionsvertrag versprochenen Alternativen Quick Freeze und Login-Falle?
KI schlägt Blockchain
2023 war auch das Jahr, in dem der Großteil der Gesellschaft realisierte, dass automatische Entscheidungssysteme schon längst unter uns sind. „Künstliche Intelligenz“ wurde zum Synonym für „Irgendwas mit Einsen und Nullen“ und erlebte einen Hype, der die Blockchain an den Rand drängte. Es ist ja nicht alles schlecht.
Es wurde allerdings schwer über die Auswirkungen zu diskutieren, weil es sowohl um automatisierte Entscheidungssysteme als auch um generative KI-Systeme ging, was dann auch die Debatte über den AI Act verkomplizierte. Die Verordnung wurde im Trilog der Europäischen Union soeben zu Ende verhandelt. Aber außer wenigen Eckpfeilern, wie dass biometrische Videoüberwachung im öffentlichen Raum zukünftig erlaubt sein soll, wissen wir noch herzlich wenig über den finalen Text.
Wie immer heißt es auch hier: Der Teufel steckt im (Gesetzes-)Detail und wird sich erst in den kommenden Jahren in der rechtsstaatlichen Praxis zeigen. Und auch die Urheberrechtsdebatte ist zurück, wer hatte sie nicht vermisst?
Viele theoretische Debatten – wie jene um Deepfakes – werden auf einmal praktisch. Wir warten immer noch darauf, dass die Vermittlung von Digitalkompetenzen, erweitert um dringend notwendige KI-Kompetenzen, irgendwie vom Himmel fallen wird. Gleichzeitig gibt es auf einmal so viele neue interessante Werkzeuge zum Rumspielen und Ausprobieren, wie seit langem nicht mehr. Wir leben in interessanten Zeiten.
Kaputte Ampel
Es ist müßig, über die Performance der Ampel-Koalition zu schreiben. Die Enttäuschung ist groß, das Chaos ist fast noch größer als bei früheren Regierungen und die meisten Versprechungen werden nicht erfüllt oder erweisen sich als Papiertiger. Statt kooperativen Regierens bekommen wir vor allem nur Stellungskämpfe unterschiedlicher Ministerien zu sehen.
Open Source soll endlich mal stärker gefördert werden, aber die Realität von „Public Money public Code“ sieht dann so aus, dass Public Money immer noch weitgehend für proprietäre Software ausgegeben wird und Public Code die seltene Kür ist. Aber wenigstens muss man Open Source immer weniger erklären, man müsste es nur eben mal endlich machen.
Der Glasfaserausbau geht voran, aber im europäischen Vergleich liegen wir immer noch weit hinten. Bei mir zuhause gibt es absehbar weiterhin nur Kupferkabel. Da kann man gleich 5G als Alternative nehmen, das verspricht laut Werbung viel mehr Bandbreite. In meinem Fall kommen über meine 100-MB-DSL-Leitung aber mehr Daten rein, weil viele Nachbarn offensichtlich dieselbe Idee hatten.
Wie gut es um den Breitbandausbau steht, können Berliner:innen immer bei der Fahrt aus der Stadt heraus beobachten. An der Grenze zum Speckgürtel gibt es kein Netz und teilweise kann man nicht einmal telefonieren. 2023 ist das immer noch eine sportliche Leistung der Devise „Der Markt wird das regeln“.
Der durchkommerzialisierte E-Sport soll gemeinnützig werden, der gemeinwohlorientierte Journalismus wurde leider vergessen, obwohl die Gemeinnützigkeit im Koalitionsvertrag mehr oder weniger versprochen wurde. Ein beliebtes Argument der Gegner:innen aus der Verlagswelt ist, dass Nazis und Denkverwandte damit auch gemeinnützige Medien aufbauen könnten.
Die Realität zeigt, dass die das auch mit den Geldern von Milliardären kapitalistisch hinbekommen. Über den unabhängigen Medien hängt aber weiterhin das Damoklesschwert, dass ihnen ein Finanzamt aus heiterem Himmel den Gemeinnützigkeitsstatus entziehen könnte. Demnächst vielleicht auch durch AfD-geführte Landesfinanzministerien.
Eine stärkere Einbindung der digitalen Zivilgesellschaft lässt ebenfalls weiter auf sich warten. Es gab zwar zarte Versuche der Einbindung auf dem Digitalgipfel der Bundesregierung. Aber das und viele andere Formate an anderen Orten waren meist kaum mehr als Beteiligungstheater.
Immerhin können sich Ministerien und Behörden auf die Fahnen schreiben, irgendwas mit Partizipation gemacht zu haben. Profitiert hat davon selten die Demokratie. Stattdessen sind meist die beauftragten Beratungsunternehmen die Nutznießer. Sie dürfen den jeweiligen Zirkus mit der Illusion des Zuhörens und Beteiligen dann teuer umsetzen und für die Schubladen dokumentieren. Schön, dass wir darüber geredet haben.
Aber es gibt auch Hoffnung.
In Zeiten von großer Nachrichtenmüdigkeit und wachsendem Misstrauen gegenüber Medien wächst die Reformbewegung um den konstruktiven Journalismus. Immer mehr erfolgreiche Experimente machen Hoffnung, hier neue Wege zu gehen zwischen konstruktiver Debatte, Lösungsorientierung und Perspektivenvielfalt.
Die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen sind endlich über eine gemeinsame Suche vernetzt. Währenddessen dreht sich die Debatte um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Systems leider immer noch mehr ums Gestern als um das Morgen.
Organisationen wie die die Gesellschaft für Freiheitsrechte, FragdenStaat, HateAid und der Verbraucherzentrale Bundesverband zeigen regelmäßig, wie effektiv das Instrument der strategischen Prozessführung für den Schutz der Grund- und Verbraucher:innenrechte ist.
2024 wird ein heftiges Jahr, das unsere Demokratie nachhaltig verändern könnte. Eine Herausforderung wird sein, positive Erzählungen für eine bessere Zukunft zu finden, für die sich das Kämpfen lohnt. Bleibt gesund und vor allem motiviert, um weiterhin und noch viel mehr für Eure Rechte zu kämpfen. Denn eine bessere digitale Welt ist immer noch möglich.
> Rechtsstaat vor Überwachung schützen
Falls dies als ein Imperativ gemeint sein soll, hier eine Frage zum Nachdenken:
Kann uns der Rechtsstaat (noch) vor Überwachung schützen?
Um mal mit einer Variation der Frage zu antworten:
WILL uns der Rechtsstaat vor Überwachung schützen?
Wollte er es je?
Bereits vor 25 Jahren wurde das Grundgesetz mal eben so geändert, weil der „große Lauschangriff“ gegen die Verfassung verstoß. Ich sehe jedoch eine weitaus größere Problematik.
Neben dem Rechtsruck als globales Phänomen und einem weltweiten Trend zu immer mehr Überwachung ist Deutschland ein Land mit stark autoritär-geprägter Vergangenheit, regiert und mehrheitlich bevölkert von einer Altersklasse, dessen Elterngeneration noch totalitär sozialisiert wurde, und einer dennoch weitverbreiteten apathischen Haltung gegenüber derartigen Tabubrüchen in der Bevölkerung selbst (Stichwort: „ich hab ja nichts zu verbergen“). Marginalisierte Gruppen wie LGBT (Stichwort“ „rosa Liste“) haben diesbezüglich ein erhöhtes Bewusstsein, aber in der breiten Masse fehlt dieses einfach. Gesetze können sich schlagartig ändern, die CSU orientiert sich an Florida, selbst die frühe Bundesrepublik hatte den sog. „Radikalenerlass“. Nach der nächsten oder übernächsten Wahl genügt es dann vielleicht, mal Mitglied in einer Gewerkschaft oder zivilgesellschaftlichen Organisation gewesen zu sein.
Der heutige Rechtsstaat war ursprünglich ein von außen aufgezwungenes Konzept, das nur wenige Jahre zuvor von der eigenen Bevölkerung mehrheitlich wohlwollend abgeschafft wurde. Ein fragiles, jederzeit zerbrechliches Konzept, was allein nicht genügt, sondern nur durch ein entsprechendes Bewusstsein für seine Ideale in der Bevölkerung selbst Früchte trägt.
In Krisenzeiten wie diesen sehnen sich viele Leute nach Autoritarismus. Unter der Illusion von mehr Sicherheit wird die eigene Freiheit freiwillig abgegeben. Über potentielle Konsequenzen in der Zukunft wird einfach nicht nachgedacht.
Wenn sowohl die Politik, als auch Bevölkerung diesem Konzept eines Tages den Rücken kehren, was gibt es dann noch zu schützen? Ich entschuldige mich für die Schwarzmalerei, aber schaue diesbezüglich leider eher in eine düstere Zukunft.
> Eine Herausforderung wird sein, positive Erzählungen für eine bessere Zukunft zu finden, für die sich das Kämpfen lohnt.
Kampagnen werden mit Hoffnungen und Ängsten gewonnen, nicht mit Wahrheiten. Emotionen geben den Ausschlag. Insofern wäre zu fragen, wem „positive Erzählungen“ (Narrative) nützen und wozu.
Werden missliche Umstände durch Schönreden verbessert, erträglicher gemacht, stabilisiert oder verschlimmert?
„Positive Erzaehlungen fuer eine bessere Zukunft“ sind genau das Gegenteil vom „Schoenreden misslicher Umstaende“.
Wer ohnehin keine bessere Zukunft sieht, der akzeptiert die misslichen Umstaende oder gleich die ungebremste Klimakrise.
> „Positive Erzaehlungen fuer eine bessere Zukunft“ sind genau das Gegenteil vom „Schoenreden misslicher Umstaende“.
Völlig daneben. Die Geschichten von Erzähl-Onkels bauen keine Wohnungen und schaffen keine Einkünfte. Wohl aber bauen sie Denkstrukturen von suggestiblen Menschen um, die nicht gegen Narrativen resilient sind. Befördert werden Träume, die den Herrschenden nützlich sind.